Erzbischof Dr. Alois Kothgasser
Die Salzburger Anstöße 2009 sind dem Thema „Menschenwürdige Arbeit, menschenwürdige Arbeitslosigkeit“ gewidmet. Dieses Thema hat durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise an Dringlichkeit und Dramatik gewonnen. Nun könnte man auf den Gedanken kommen, dass man sich in einer Zeit der Krise den Luxus menschenwürdiger Arbeit nicht mehr leisten könne; man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Rede von Solidarität und menschlicher Würde realitätsferne Träumereien ausdrücken, die im harten Wirtschaftsleben nicht bestehen können.
Dazu muss unmissverständlich gesagt werden: Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist wesentlich auch eine „Krise von innen“, eine moralische Krise, in der die „avaritia“, die unkontrollierte Gier, die Maßlosigkeit eine besondere Rolle gespielt hat. Die Kirchenväter haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Habsucht den Menschen entstellt und dass die Habsucht ein Übel ist, das weitere Übel erzeugt. Die Gier, möglichst rasch mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel Gewinn machen zu können, hat in die Krise geführt, die nun das Übel steigender Arbeitslosigkeit mit sich bringt.
Gerade deswegen, weil die derzeitige Krise wesentlich auch eine moralische Krise ist, muss sie auch unter moralischem Einsatz gelöst werden. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Krise einfach verschwindet; und wir können nicht davon ausgehen, dass in ein paar Monaten alles wieder so weiter gehen wird wie bisher. Wir müssen tatsächlich grundsätzlicher nachdenken. Und dabei einen zentralen Punkt nicht aus den Augen verlieren: Ein Arbeitsplatz ist für den Menschen da und nicht ein Mensch für den Arbeitsplatz – so finden wir es in der Sozialenzyklika „Laborem Exercens“ geschrieben (Nr. 6). Menschenwürdige Arbeit ist nicht ein Geschenk, sondern ein Recht; menschenwürdige Arbeit ist nicht ein vermeidbarer Budgetposten, sondern eine Investition in die Zukunft. Wenn wir Bedingungen menschenwürdigen Arbeitens verletzen, wird uns die moralische Kraft ausgehen, die derzeitige Krise zu bewältigen.
Wirtschaft und Moral sind nicht zwei getrennte Bereiche, sondern durchdringen einander. In der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" heißt es in diesem Zusammenhang: "Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft" (Gaudium et Spes, 68).
Was bedeutet nun menschenwürdige Arbeit? Erstens bedeutet menschenwürdige Arbeit eine Gestaltung der Arbeitswelt, die die Würde des Menschen widerspiegelt. Arbeit leistet ja einen dreifachen Beitrag zum Menschsein – sie sichert die Existenz; sie gibt Raum für die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten; sie trägt zum Aufbau des Gemeinwohls und der Gemeinschaft bei. Menschenwürdige Arbeit erlaubt die Erfüllung dieser drei Aufgaben. Und hier hat auch das Christentum einen Beitrag geleistet. Ich darf in Erinnerung rufen, dass Josef, der Nährvater Jesu, ein Zimmermann war, dass Jesus selbst die Bezeichnung „Zimmermann“ nicht abgelehnt und wohl den Großteil seines irdischen Lebens mit harter manueller Arbeit verbracht hat, dass viele Bilder der Arbeitswelt in den Gleichnissen Jesu verankert sind.
Zweitens bedeutet menschenwürdige Arbeit den Respekt vor bestimmten Bedingungen: Der Begriff der menschenwürdigen Arbeit wurde von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf entwickelt. Von menschenwürdiger Arbeit kann nach diesem Verständnis dort gesprochen werden, wo vier Bedingungen erfüllt sind:
- rechtliche Absicherung
- hinreichende Entlohnung
- Sicherheit am Arbeitsplatz
- und schließlich: sozialer Dialog.
Es darf darauf hingewiesen werden, dass diese vier Bedingungen auch fest in der Katholischen Soziallehre verankert sind. Das Gemeinwesen wird durch Rechte, Pflichten und einen Sinn für Solidarität und Zusammengehörigkeit aufgebaut. So gesehen hängen menschenwürdige Arbeit und die Idee einer guten Gesellschaft zusammen. Mehr noch: Man könnte die Standards von Arbeit als Indikator für die ethische Qualität einer Gesellschaft heranziehen.
Nun möchte ich noch eine Frage aufwerfen: Ich habe die vier Bedingungen für menschenwürdige Arbeit nach dem Verständnis der Internationalen Arbeitsorganisation aufgelistet: Rechtliche Absicherung; hinreichende Entlohnung; Sicherheit am Arbeitsplatz; sozialer Dialog.
Was bedeuten diese vier Bedingungen in Bezug auf eine menschenwürdige Gestaltung der Arbeitslosigkeit? Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, müssen Sicherheit und Rechtssicherheit erfahren; ihnen ist der Zugang zu hinreichender Unterstützung zu gewähren; und menschenwürdige Arbeitslosigkeit heißt wohl auch: sozialer Dialog. Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, eine Stimme zu geben, ein Mitspracherecht, einen Gestaltungsspielraum. Die Katholische Soziallehre besteht auf dem Recht auf Arbeit – wenn dieses Recht vorenthalten wird, ist auch der soziale Friede gefährdet. (Centesimus Annus 43). Gerade in unserer Zeit ist besonders darauf zu achten, dass der soziale Zusammenhalt gestärkt wird. Auch aus diesem Grund ist die Forderung nach „menschenwürdiger Arbeitslosigkeit“ von entscheidender Bedeutung. Um es mit einem Wort der erwähnten Enzyklika „Laborem Exercens“ zu sagen: „Die Pflicht der Hilfeleistung für die Arbeitslosen, das heißt die Verpflichtung, den beschäftigungslosen Arbeitnehmern und ihren Familien durch die dazu nötige entsprechende Unterstützung den Lebensunterhalt zu sichern, entspringt dem Grundprinzip der für diesen Bereich gültigen sittlichen Ordnung, nämlich dem Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der Güter oder, anders und einfacher ausgedrückt, dem Recht auf Leben und Unterhalt (Nr 18). So gesehen ist die Grundforderung nach sensiblem Umgang mit Arbeitslosigkeit eine Grundforderung einer Gesellschaft, die die menschliche Würde achtet.
Abschließend darf ich ein Anliegen formulieren. Menschenwürde und Respekt sind zwei Seiten einer Medaille. Mit dem Blick auf Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, möchte ich um großen Respekt bitten. Bei seinem ersten Österreichbesuch im Jahr 1983 hat Papst Johannes Paul II. am 12. September eine Ansprache vor Arbeiterinnen und Arbeitern in Wien gehalten und dabei folgende Worte gesprochen, die heute auf neue Weise aktuell sind:
„Wir befinden uns in den Anfängen von Umwälzungen. In solchen Zeiten muß sich bewähren, was wir Christen vom Menschen und seiner Arbeit denken. Es darf nicht dazu kommen, daß derjenige, der seinen Arbeitsplatz verlieren sollte, auch seinen Standort in der Gesellschaft verliert, daß er isoliert und seines Selbstwertgefühls beraubt wird.“
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